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Tattoos: Die Geschichte des Tätowierens

Ich gebe zu, ich bin nicht die größte Fanin von Tattoos. Das hat einerseits bestimmt damit zu tun, wie ich aufgewachsen bin. Andererseits spielt auch ein ästhetischer Faktor mit. Ich habe, wie wohl die meisten unter uns, eine klare Vorstellung davon, was mir gefällt und was nicht. Wir orientieren uns dabei an Stilen, an Bildern aus Kultur und Natur. Es ist nicht so, dass ich der Tätowierkunst klar abgeneigt bin. Es fällt nur schwer, sich auf einen Stil, auf ein Sujet und auf eine Größe zu beschränken und dann noch eine passende Körperstelle dafür zu finden. Dazu kommt die Gewissheit, dass sich Stile und Geschmäcke verändern. Wenn ich nur schon Fotos meines Ichs vor knapp 10 Jahren betrachte, bekomme ich schon fast Zustände aufgrund des gewählten Kleidungsstils. Die Vorstellung, ich müsste ein bestimmtes Kleidungsstück, das mir einmal gefallen hat, für den Rest meines Lebens tragen – nein danke!
Da bewundere ich mein Umfeld: Wie spontan und easy sich diese Menschen teilweise mit der Thematik befassen.

Um meiner Engstirnigkeit und Verkopftheit etwas entgegenzuwirken, habe ich mich dazu entschlossen, mich vermehrt mit Tattoos und dem Tätowieren auseinanderzusetzen. Zwischenzeitlich habe ich sogar schon zwei Tattoo-Conventions besucht. Auch das Buch «Tattoos» von Matt Lodder passt da perfekt in mein Unternehmen rein, mich der Materie anzunähern und anzunehmen. Wie geht man einer Sache besser auf den Grund, als ihre Anfänge zu ergründen!

Im nachfolgenden Beitrag bilde ich mich also weiter und lasse mich auf ein paar ausgewählte Meilensteine der Geschichte des Tätowierens ein. Sind Sie ebenfalls mit an Bord?

 

094o_Lodder_Tattoos_(c)Privatsammlung, Dr. Matt Lodder

Ein Schaufensterdekorationsschild, mit dem Tätowierer:innen ihre Dienste anpreisen konnten. Dieses Beispiel stammt aus den späten 1940er-Jahren. ©Privatsammlung, Dr. Matt Lodder

Lodder, Matt
Tattoos Book

CHF 38.00 CHF 32.30*

Tätowierungen in Westeuropa vor der Öffnung Japans (bis 1858)

Im Februar 1719 wurden John Woodward und Thomas Williams im Old Bailey in London wegen Einbruchdiebstahls zur Deportation in die Strafkolonien verurteilt. Die beiden Männer hatten das Fenster eines Privathauses in der City eingeschlagen, durch das einer von ihnen hineinlangte, um einen Seidenschal zu stehlen, und sich dabei die Hand aufriss. Beide wurden rasch gefasst – Williams an einer Straßenecke in der Nähe, Woodward in einer örtlichen Bierschenke, wo er seine blutige Hand bei einem Pint Ale versorgte. Bei der Befragung bestritten die Männer, einander zu kennen, aber dem Polizisten, der sie verhaftete, fiel auf, dass sie das gleiche Tintenmal auf dem Arm trugen: vier Kreuze um ein größeres Kreuz in der Mitte. Das Motiv wird Jerusalemkreuz genannt und ist ein Symbol der christlichen Missionierung, die vom Heiligen Land ausgeht.

Solche Tintenmale – zu jener Zeit noch nicht Tätowierungen genannt – waren damals schon seit über einem Jahrhundert beliebte Andenken europäischer Pilger an ihren Besuch in Jerusalem, aber auch in Bethlehem, Nazareth und an anderen heiligen Orten wie Loreto in Italien. Tatsächlich könnten die technologischen Neuerungen, die zu dieser lebhaften Tradition von Pilgertätowierungen führten, ihren Ursprung sogar in Italien gehabt haben: Es gibt einige Belege dafür, dass die dauerhafte Verzierung der Haut mit Motiven dort bis mindestens in die 1550er-Jahre zurückreicht. Der Universalgelehrte Gerolamo Cardano schlug 1554 vor, in Rasierklingenschnitte von medizinischen Aderlassen rote oder blaue Pigmente zu reiben, um Buchstaben oder Formen auf der Haut zu erzeugen, und Giambattista della Porte schrieb 1558, solche Techniken seien durch Erzählungen aus der griechischen Antike wohlbekannt.

Die frühesten Aufzeichnungen über Pilgertätowierungen im Heiligen Land reichen bis in die 1560er- Jahre zurück. Im 17. Jahrhundert war aus dieser Praxis ein kommerzielles Unternehmen geworden: Die Bilder wurden mithilfe von geschnitzten Motivblöcken aus Holz auf die Haut gestempelt und anschließend langsam und sorgfältig mit einer in schwarze Tinte getauchten Nadel in die Haut gestochen. Solcher Pilgermale waren ein Zeichen religiöser Hingabe, und als Andenken an lange und bedeutsame Reisen wurden sie für die Pilgernden zu einem wichtigen Teil der Pilgerfahrt. In einem anschaulichen Bericht von 1658 beschrieb der französische Pilger Jean de Thévenot, christliche Tätowierer besäßen «mehrere Holzformen, aus denen man sich diejenige aussuchen kann, die am besten gefällt; dann füllen sie sie mit Kohlenstaub und drücken sie auf den Arm, sodass sie auf demselben einen Abdruck dessen hinterlassen, was in die Form geschnitzt ist; danach halten sie mit der linken Hand den Arm fest und dehnen seine Haut, und in der rechten Hand haben sie ein kleines Rohr mit zwei darin befestigten Nadeln, die sie von Zeit zu Zeit in mit Ochsengalle versetzte Tinte tauchen und den Arm entlang der Linien einstechen, die durch die Holzform hinterlassen wurden.»

014_Lodder_Tattoos_(c)Privatsammlung, Dr. Matt Lodder

Zeichen der Hingabe: Diese Radierung von 1701 zeigt die Tätowierungen des deutschen Pilgers Ratge Stubbe. Wie die mittätowierte Jahreszahl zeigt, wurde ihm 1669 der Schädel Adams unter einer umfangreichen Osterszene auf den linken Unterarm gestochen. Auf dem rechten Unterarm prangen ein Jerusalemkreuz sowie die Namen Bethlehem und Jerusalem. ©Privatsammlung, Dr. Matt Lodder

 

Die meisten Berichte solcher Tätowierungen stammen aus den Tagebüchern und Aufzeichnungen wohlhabender Pilger, die sich wie Thévenot die Reise zum einen leisten konnten und deren Aufzeichnungen zum anderen bemerkenswert genug waren, um veröffentlicht zu werden und so über die Jahrhunderte erhalten zu bleiben. Das Vorhandensein solcher Male an Einbrechern aus der Großstadt ist faszinierend, weil es zeigt, dass der Brauch sich offenbar über diejenigen hinaus verbreitet hatte, die eine Pilgerreise unternehmen konnten, und daheim zu einer volkstümlicheren, alltäglicheren Sitte geworden war. Am interessantesten ist der Hinweis im kurzen Bericht aus Old Bailey, einer der Angeklagten hätte angegeben, es sei «sein Geschäft», die Male herzustellen. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass viele Menschen in Europa und Nordamerika vor dem mittleren bis späten 19. Jahrhundert außerhalb der Grenzen kultureller Mainstream-Praktiken tätowiert wurden. Neben den Malen, die sich Pilgernde im Ausland stechen ließen, gab es im Europa der frühen Neuzeit eindeutig auch Tätowierungen aus eher praktischen Gründen, etwa die Kennzeichnung von Findelkindern in italienischen Krankenhäusern im späten 16. Jahrhundert, die verhindern sollte, dass ein Säugling heimlich gegen einen anderen ausgetauscht wurde. In Österreich wurden Mitte des 18. Jahrhunderts jugendliche Wanderarbeitende tätowiert, damit ihre Eltern sie wiedererkannten, wenn sie nach vielen Jahren Arbeit auf deutschen Höfen nach Hause zurückkehrten. Die meisten westlichen Tattoos vor dem späten 19. Jahrhundert entstanden im engen Kontext von Militär, Internaten, Arbeitsplätzen oder unter Freunden und Familienmitgliedern. 

Auch wenn es nicht ihr Hauptberuf war, waren einige Menschen in solchen Gemeinschaften dafür bekannt, dauerhafte Male in die Haut zu stechen. Dennoch gab es in der westlichen Welt keine offizielle Tattoobranche – jedenfalls nicht, wie wir sie kennen. Man konnte in der Regel nicht in eine feste Betriebsstätte marschieren und einem Fremden Geld dafür geben, die Haut dauerhaft mit Tinte zu verzieren. Es gibt derzeit keine Belege dafür, dass in den USA vor den 1850er-Jahren professionell tätowiert wurde oder im Vereinigten Königreich vor den 1880er-Jahren. Es gab keine Tattoostudios, Tattooateliers oder Tätowierstuben. Dennoch deutet die Erwähnung des «Geschäfts» von Woodward und Williams darauf hin, dass zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine kommerziellere Praktik existierte, wenn auch nicht an festen Orten, die sinnhafte Abzeichen auch für Menschen möglich machte, die keine Pilgerreise unternommen hatten. Auf ähnliche Weise ist in einem um 1753 entstandenen illustrierten Überblick über die Bräuche der Menschen in Venedig ein Tattookünstler dargestellt, der so ähnlich arbeitet, wie es Pilger aus dem Heiligen Land berichtet hatten: Auf seinem Tisch liegen zahlreiche geschnitzte hölzerne Motivstempel.

 

Die Geburtsstunde der professionellen Tätowierkunst (1858-1880)

Martin Hildebrandt, ein eloquenter, schnauzbärtiger deutscher Einwanderer in die USA, gilt weithin als der erste professionelle Tätowierer in der westlichen Welt. «Hildebrandt, Martin. Tätowierungen», lautete ein Eintrag im New York Directory für das Geschäftsjahr, das im Mai 1859 endete. Seine Adresse, 361 Water Street, war eine berüchtigte heruntergekommene Pension und Schenke in einem brutalen Hafenviertel, das Slaughterhouse Point genannt wurde. Dieser unauffällige Eintrag inmitten des alltäglichen Straßenbilds der Lebensmittelhändler, Zimmerer und Arbeiter New Yorks markiert vielleicht den Moment, in dem die alte, private, volkstümliche Kunst des Tätowierens in der westlichen Welt ins Rampenlicht der kommerziellen Öffentlichkeit trat. Wie wir gesehen haben, erfreute sich das Tätowieren in Europa und den USA bereits einer langen und durchgehenden Existenz. Die Praktik, auch wenn sie nicht gänzlich unbezahlt blieb, beschränkte sich jedoch hauptsächlich auf private Räume unter Schiffskameraden, Zellennachbarn, Schuljungen und Freunden oder wurde auf Pilgerreisen in den Nahen Osten kommerziell ausgeführt. Jetzt, da New York rasch wuchs, legten in seinem Hafen mehr Passagierschiffe an als in allen anderen Häfen des Landes zusammen. Zum ersten Mal gab es potenzielle Kundschaft in ausreichender Zahl an einem Ort, was das Tätowieren zu einem profitablen öffentlichen Gewerbe machte. Hildebrandt selbst hatte die Technik von einem Kameraden gelernt, als er in den 1840er-Jahren in der Marine diente, und hatte fast zwanzig Jahre lang auf Schiffen tätowiert. Auch er war von den Schultern bis zu den Zehen mit Bildern übersät, als er es um 1866 nach eigenen Worten zu seinem «ausschließlichen Beruf» machte. Noch 1870 lautet sein Eintrag im Straßenverzeichnis für die 43 Oak Street jedoch «Maler», was darauf hindeutet, dass er seine künstlerische Begabung nicht nur auf der Haut einsetzte, sondern auch auf anderen Medien.

Wachsendes Ansehen

Der wegweisende Moment für Hildebrandt und für die Geschichte des Tätowierens im Westen allgemein war die Öffnung Japans nach der Meiji-Restauration. Japan hatte sich seit dem frühen 17. Jahrhundert weitgehend vor dem Handel mit und vor Besuchen aus dem Ausland abgeschottet, doch 1853 segelte eine amerikanische Flottille unter dem Kommando von Kommodore Matthew Perry in japanische Gewässer und forderte die japanische Militärregierung mit großem Nachdruck auf, die Landesgrenzen für den Handel zu öffnen oder sich einem Konflikt zu stellen, den sie mit Sicherheit verlieren würde. Hildebrandt behauptete oft, an Bord eines der Schiffe der Schwadron gewesen zu sein; vielleicht war das aber auch gelogen. Die kulturellen Auswirkungen dieser Begegnung führten im Westen zu einer allumfassenden Faszination für alles Japanische. Die größte Überraschung waren die ausgedehnten, kunstvollen Tätowierungen der Schauspieler, Postboten, Feuerwehrleute und anderer Gruppen in Japans östlicher Hauptstadt Edo (dem heutigen Tokio), die sowohl im Umfang als auch in der künstlerischen Ausführung weit entfernt waren von den bekannten europäischen Tattoos. Aus dieser ersten Begegnung zwischen der aufwendigen maritimen Tätowiertradition im Westen und den dekorativen Tätowierungen im Osten erwuchs das flammende Inferno der zeitgenössischen Tätowierkunst. [...] Hildebrandts Kundschaft unterschied sich zumindest anfangs nicht allzu sehr von den ungehobelten Matrosen, die er auf See tätowiert hatte. Der amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 unterbrach sein Gewerbe in festen Geschäftsräumen – und die Weiterentwicklung des Berufsstandes –, doch er verdiente seinen Lebensunterhalt weiterhin als fahrender Künstler und tätowierte Soldaten aus beiden Lagern des Konflikts. In diesen ersten, holprigen Anfängen des professionellen Tätowierens gab es im Vergleich zu den vergangenen 150 Jahren sehr wenig Neues in puncto Demografie oder Motive.

Im Jahr 1872 jedoch wendete sich das Blatt. Hildebrandt hatte sich in der Oak Street niedergelassen und betrieb sein Tätowiergewerbe diskret in einem Atelier in einer Schenke, wo er allerdings inzwischen von Odaliskengemälden umgeben war und sich eines ausreichenden Rufs und genügend Reichweite erfreute, dass die Stadtpresse ihn in ihren Artikeln rühmte. Die New York Sun ging so weit, seine Arbeit als «hervorragend» zu bezeichnen, und neben seiner sonnengegerbten Matrosen-Klientel zählte er «viele höchst respektable Gentlemen» zu seiner Kundschaft, die sich von ihm die Embleme ihrer Clubs tätowieren ließen. Die New York Times nannte ihn einen «bedeutenden Meister seiner Kunst» im Vergleich zu geringeren, «stümperhaften» Konkurrenten in Boston, Philadelphia und Chicago und beschrieben ein exquisites Motivbuch mit Flaggen, religiösen Szenen und einer Fülle an Pin-up-Girls, Ballerinen und weinenden Witwen. Das Zeitalter der modernen Tätowierkunst war angebrochen – Hildebrandt sagte damals fälschlicherweise voraus, dass das Tätowieren bis zur Jahrtausendwende populär bleiben würde, und danach würden «wir alle rein weiß [sein], ohne jedes entstellende Mal».

 

Tätowierkunst in der feinen Gesellschaft (1881-1914)

[...] Ein wichtiger Antrieb für die explosionsartige Verbreitung des Tätowierens in Großbritannien in den 1880er-Jahren geht direkt auf das Interesse an Tätowierungen infolge der Öffnung Japans in den 1850er-Jahren zurück und speziell auf die Tatsache, dass die britische Königsfamilie sich für diese japanische Kunst begeisterte und von Besuchen nach der Meiji-Restauration Tätowierungen mitbrachte. Prinz Alfred, der Duke of Edinburgh, ließ sich während seines Aufenthalts im Enryōkan (Gästehaus des Palastes) tätowieren, und fortan setzte jedes Mitglied der Königsfamilie bis in die 1920er-Jahre bei Japanbesuchen diese Tradition fort.

Insbesondere Prinz George, der Duke of York (und spätere König George V.), und sein Bruder Albert Victor, der Duke of Clarence, ließen sich bekanntermaßen 1881 in Japan tätowieren – George natürlich einen Drachen und Albert Victor einen Storch. (Ihr Vater Edward VII. war 1862 als Pilger in Jerusalem tätowiert worden; die jungen Prinzen traten direkt und voller Stolz in seine Fußstapfen und ließen sich bei einem Abstecher ins Heilige Land auf der Rückreise ebenfalls Jerusalemkreuze stechen.) Die Geschichte ihrer Tätowier- Abenteuer in Japan wurde so bekannt, dass eine Illustration von George unter der Nadel in einer Sonderausgabe der Zeitung anlässlich seiner Hochzeit mit Mary of Teck erschien.

In der französischen Marine war das Tätowieren 1861 eher erfolglos verboten worden, nachdem aus medizinischen Kreisen Bedenken laut wurden. Das führte dazu, dass zumindest in Frankreich das Tätowieren anzüglicher und tabuisierter blieb als in der anglophonen Welt. Doch das drängende Verlangen der wohlhabenden Kundschaft, die Sitten der britischen Königsfamilie nachzuäffen, heizte den Boom der professionellen Tätowierkunst in Europa und Amerika in den 1880er-Jahren zweifellos an. Zeitungen auf beiden Seiten des Atlantiks berichteten atemlos, wie verschiedene kleine Adlige und Mitglieder der High Society die besten Künstler:innen aufsuchten, um sich Tattoos im japanischen Stil oder gar ihre Lieblingsstücke der französischen Salonmalerei stechen zu lassen. In Japan selbst wurde 1869 dem gemeinen Volk das Tätowieren untersagt, was japanischen Künstlern den Anreiz gab, sich sowohl zu Hause als auch in der Fremde ausländische Kundschaft zu suchen. Mehrere verließen Japan, um ihre Dienste an Orten wie Singapur und Hongkong anzubieten; andere kamen auf Einladung westlicher Tätowierer nach Paris, London, New York und San Francisco, um dort zu arbeiten. Diejenigen, die in Japan blieben, schnitten ihr Angebot immer mehr auf die europäische und amerikanische Kundschaft zu. Am oberen Ende der Skala bedeutete dies, dass wohlhabende ausländische Gäste, angelockt von Anzeigen in englischsprachigen Reiseführern, einige der größten Tattookünstler des Landes aufsuchen konnten. Motivbücher von Tätowierern in Nagasaki, die sich an Matrosen auf englischen, russischen, französischen oder amerikanischen Marineschiffen richteten, zeigen eine bunte, kulturübergreifende Mischung europäischer und orientalisierender Motive für jeden Geschmack. (Man beachte hier die Bezeichnung „orientalisierend“ – diese Motive fungieren als generisch und fiktiv „orientalisch“ in den vereinfachenden, gönnerhaften Verzerrungen des europäischen Blicks und verlieren dabei jedwede kulturellen Eigenarten.) Sehr bald nahmen sogar Tätowierer der englischen Marine modische japanische Motive in ihr Repertoire auf.

 

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Meister seiner Kunst: Diese umfangreichen Tätowierungen an John Breem stammen von Norman «Sailor Jerry» Collins. Die meisten seiner Kunden gingen mit kleinen Flash-Tattoos nach Hause, aber Jerry arbeitete auch großflächigin Anlehnung an die traditionellen japanischen Ganzkörper-Tätowierungen (Irezumi). ©Rudi Inhelder Collection, Bishopsgate Institute

 

[...] Wunderbar ausgearbeitete Vögel, Blumen und Landschaften von betörender Schönheit – dabei durch und durch japanisch in Stil und Konzeption – werden nun aufgebracht, und einige Stücke sind so minuziös ausgeführt, dass man beinahe ein Mikroskop braucht, um sie angemessen zu würdigen.

Tätowieren im und nach dem Krieg (1914-1939)

Atempause

In den kurzen Jahrzehnten zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs war Westeuropa eine kurze Pause der Konfliktfreiheit gegönnt. Die aufkommende Frauenbewegung, die in England 1918 das eingeschränkte Wahlrecht für Frauen erkämpfte, entsprang dem Verlangen junger Frauen danach, die Grenzen patriarchaler Verhaltensnormen zu verschieben, und sie waren es auch, die die Bewegung weiter vorantrieben, indem sie Autonomie und Freiheit in Form von Mode, Benehmen und natürlich Tätowierungen für sich in Anspruch nahmen. Unter den jungen Frauen der Mittelschicht in Metropolen wie London, Paris, New York und Berlin wandten sich die Subkulturen der «Flapper» begierig dem Tätowieren zu, um Rebellion und gleichzeitig sinnliche, ja sogar sexuell aufgeladene Weiblichkeit auszudrücken. In den 1920er-Jahren berichteten die Zeitungen immer wieder von neuen Modetrends wie Schmetterlingstattoos, tätowierten Strumpfbändern, eingeringelten Schlangen und «seltsamen, fantastischen Motiven». Wie in den 1890er-Jahren schien der sogenannte «Trend» über den Atlantik hin und her zu springen und die amerikanischen Modefans und die europäische Schickeria sich gegenseitig nachzuahmen. 1931 beschwerte sich Sutherland Macdonald bei Freunden, dass die großflächigen, japanisch angehauchten Arbeiten, für die er im späten 19. Jahrhundert bekannt geworden war, so unpopulär war, dass er sich kaum noch die Mühe machte, sein Studio aufzusuchen. Stattdessen waren kleinere, billigere Tattoos der letzte Schrei, und der Tattookünstler wurde nun eher als Dandy gesehen denn als alter Seebär. Am Ende des Jahrzehnts war das Tätowieren bei den Frauen so in Mode, dass Tattoomotive es bis auf zeitgenössische Textilien in Paris schaffte, wo Elsa Schiaparelli 1929 in ihrer Sommerkollektion wagemutig Badeanzüge mit aufgestickten Emblemen zeigte, die sie direkt aus den Tätowierläden in den französischen Häfen entlehnt hatte. Selbst die Herrenecke der Modepresse ließ es sich nicht nehmen, ihre Leser darauf hinzuweisen, wie modisch so ein kleines Tattoo war: «Das Tätowieren ist vom Wilden auf den Seemann und vom Seemann auf die Landratte übergegangen und findet sich heute unter so manchem maßgeschneiderten Hemd», schrieb Vanity Fair 1926.

Genau wie in London lamentierten die amerikanischen Tätowierer:innen alter Schule inzwischen über den kapriziösen und unkultivierten Geschmack der jungen Leute: Ein Künstler verzweifelte darüber, dass er kleine Bilder auf der Grundlage niedlicher beliebter Drucke stechen musste, während er in den vergangenen Jahrzehnten seiner eigenen Einschätzung nach erlesene Kunstwerke geschaffen hatte. «Es ist schon schlimm, tauchende Mädchen und die Venus aus dem Meer stechen zu müssen, wenn man doch die Fähigkeiten zu solchen Werken in sich trägt, nicht wahr?», sagte der Tätowierer. «Aber von irgendwas muss ich leben […] Es ist nicht mehr wie früher», seufzte er. «Zu meiner Zeit wollten sie Drachen.» Der Schwarze Donnerstag 1929 traf die angesehensten Künstler:innen in New York schwer, deren hochkarätigste Kundschaft unter den Angestellten in Banken und Anwaltskanzleien so viel Geld am Markt verloren hatte, dass sie ihrer Tätowierleidenschaft nicht mehr frönen konnte. Dem mittleren Marktsegment jedoch ging es bis in die 1930er-Jahre hinein gut. Im Laufe des Jahrzehnts war das Tätowieren mal «der Hit in der Londoner Gesellschaft» und mal eine «Modeerscheinung», und die zunehmende Lockerung der Kleidungsstandards für Frauen, insbesondere das Aufkommen kürzerer Röcke, machte als Nebeneffekt erstmals Tätowierungen an älteren Damen sichtbar, die diese in der Anfangszeit des professionellen Tätowierens erworben hatten. Ein eindrückliches Beispiel ist Edith Vane-Tempest-Stuart, die Marchioness of Londonderry, die 1938 auf einer Modenschau mit einem großen Drachentattoo auf den Beinen gesichtet wurde, das durch ihre glatten Strümpfe hindurchschimmerte. Diese und andere Tätowierungen waren über dreißig Jahre zuvor in Japan entstanden, aber die wieder aufgelebte Erkenntnis, dass Adelige niedrigen Ranges Tätowierungen unter ihren Kleidern versteckten, führte dazu, dass Nachahmer:innen die Tattoostudios stürmten.

 

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Samuel «Deafy» Grassman und seine Frau Edith «Stella» Grassman in den 1930er-Jahre. Sowohl Deafy als auch Stella tätowierten und arbeiteten ab den 1920er-Jahren an verschiedenen Orten, darunter Philadelphia und New York City. Das Paar erwarb sich einen Ruf als eine Art Powerpärchen und schaltete Werbeanzeigen als «The Original Deafy and Miss Stella». An der Qualität der Tätowierungen auf Stellas Körper wird ersichtlich, dass Deafy einer der besten Künstler seiner Zeit war. ©Rudi Inhelder Collection, Bishopsgate Institute

 

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zementierte also ironischerweise falsche Auffassungen vom Tätowieren in der öffentlichen Vorstellung. Einerseits bedeutete die Beliebtheit des Tätowierens im Militär, sowohl zu Hause als auch in der Fremde, dass die Kunstform nicht mehr von unseren Stereotypen der tätowierten Matrosen und Soldaten zu trennen war. Andererseits kam es in dieser Zeit zu gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen, die dafür sorgten, dass das Tätowieren zunehmend als modisch galt und bei Männern wie Frauen aller gesellschaftlichen Klassen beliebt war. Trotz des Modeaspekts wurde das Tätowieren jedoch nicht in den Stand der behaglichen kulturellen Akzeptanz erhoben. Das wiederum führte dazu, dass über ein Jahrhundert lang die bloße Existenz tätowierter Frauen und tätowierter Anwälte Grund genug für ein Rauschen im Boulevardzeitungs-Blätterwald war und vielleicht immer sein wird.

Dr. Matt Lodder ist leitender Dozent für Kunstgeschichte und -theorie und Leiter des Fachbereichs Amerikastudien an der University of Essex, England.

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