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Die Welt der Gerüche – Vom flüchtigsten aller Sinne

Gerüche lösen Freude ebenso wie Ekel aus, wecken Erinnerungen und beeinflussen täglich unsere Entscheidungen: sie prägen unser Leben mehr als wir meinen. Trotzdem wird der Geruchssinn bis heute unterschätzt und die völlige Abwesenheit von Gerüchen nicht selten als Ideal empfunden. In «Die Welt der Gerüche» geht Bjørn Berge dem Geruchssinn in all seinen Facetten auf den Grund. Eine Annäherung wagen wir in diesem Magazin-Beitrag und starten mit Auszügen aus dem Vorwort:

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© Anette Rosenberg

 

Aus dem Vorwort:

«Wir leben im Zeitalter des Okularzentrismus, in dem der westiche Mensch in erster Linie von der visuellen Welt beeinflusst wird. Es ist wichtiger, dass etwas gut aussieht, als dass es funktioniert, seien es Häuser, Backwerk, Kampfflugzeuge oder Menschen. Für die heranwachsende Generation erscheint das Leben wie ein ewiger Catwalk. 
Auf dem zweiten Platz der Hierarchie der Sinne folgt der Gehörsinn, der noch immer eine gewisse Bedeutung hat, während Geschmacks-, Tast- und Geruchssinn die unteren Ränge einnehmen. Letzterer steht mit Abstand an letzter Stelle. Eine weltweite Umfrage im Jahr 2011 hat ergeben, dass Jugendliche lieber auf ihren Geruchssinn verzichten würden als auf ihren Computer oder ihr Smartphone. [...] In einer Zeit, in der künstliche Intelligenz immer größere Lebensbereiche übernimmt, geschieht es sogar, dass auch der Sehsinn kapituliert. Am schlechtesten steht es jedoch um den Geruchssinn. Dass er sich nicht digitlaisieren lässt, hilft ihm erst recht nicht weiter.

[...] 

Menschen haben seit Langem ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem Geruchssinn. Lange Zeit galt er als der oberste und informativste Sinn von allen. Zu anderen Zeiten wurde er in Tabus gehüllt und zur Stigmatisierung von Randgruppen wie Bauern, Arbeitern oder Immigranten missbraucht. Sein endgültiger Niedergang begann mit der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu anderen Sinneseindrücken ließen sich die Gerüche nicht organisieren, sortieren und quantifizieren. Für die fortschreitenden Naturwissenschaften war diese in Problem, aber es ging auch um Macht, Dominanz und Kontrolle. 

[...] 

In den letzten Jahrhunderten hat die Menschheit sich große Mühe gemacht, die vielfältogen Ursachen aller möglichen Gerüche zu bekämpfen. Die vollständige Abwesenheit von Gerüchen gilt heute als Ideal. Die wenigen Ausnahmen, die weiterhin toleriert werden, beschränken sich auf das Kochen, Parfümieren und Deodorieren – alles unter Kontrolle und meist mit kommerziellen Absichten.»

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© Anette Rosenberg

 

Das Buch von Bjørn Berge kann man immer wieder zur Hand nehmen, darin vor und zurück blattern und immer neue, spannende Aspekte zu Gerüchen erfahren. Im Folgenden teilen wir ein paar Auszüge aus dem Buch und ein Statement des Autors mit Ihnen: 

Die Vergänglichkeit des Geruchs

Wenn man im Sturm steht und die Lunge bis zum Rand mit dem herrlichen Geruch des Meeres füllt, ist es irgendwann plötzlich vorbei. Natürlich rollen die Wellen weiter auf den Strand zu, die Möwen schreien und auch der Salzgeschmack bleibt auf der Zunge. Aber der Geruch verschwindet mit einem Mal. Im besten Fall bleibt noch ein Gefühl der Frische, doch die reichhaltigen Aromen sind wie verflogen.

Gewöhnungseffekt

Unser Geruchssinn ist in erster Linie darauf eingestellt, Veränderungen in unserer Umgebung zu entdecken. Einmal entdeckt, gewöhnen wir uns schnell daran. Oft dauert es nur wenige Minuten und selten mehr als eine halbe Stunde, nachdem wir eine neue Landschaft oder ein Haus betreten oder uns in ein Auto gesetzt haben, bis der Geruch weg ist. Das gilt sogar für schlimmen Gestank, allerdings mit Abstufungen. Manche Gerüche, zum Beispiel einige Rosendüfte, halten nur wenige Sekunden, während andere – wie Kampfer oder frischer Mist – tagelang hängen bleiben. Doch das Prinzip ist das gleiche.

Die Intensität lässt in vielen Fällen schon nach dem ersten Schnuppern nach, und zwar in der kurzen Zeit, die das Gehirn braucht, um den Geruch zu identifizieren. Aus evolutionärer Perspektive besteht nun kein Bedarf mehr.16 Wir haben die Information bekommen, die wir brauchen, ob es sich nun um Meer, Rosen oder Katzenurin handelt. Oder um unseren eigenen Körpergeruch, den wir meist nur als einen Hauch von Schweiß nach dem Training wahrnehmen. Oder den Geruch unseres Heims, den wir erst wieder bemerken, wenn wir eine Weile draußen waren. Oder den unserer Heimatstadt, wenn wir von einer Reise zurückkehren.Oder den unseres Arbeitsplatzes, den wir jeden Morgen nur wenige Minuten lang wahrnehmen.

Verschwundene Gerüche

Viele Geruchserinnerungen sind so etwas wie Allgemeingut, jedoch nicht für alle. Ein unterscheidender Faktor ist das Alter. Die meisten aus meiner Generation – das heißt in den 1950er- Jahren Geborene – kennen den Geruch von verbranntem Staub auf dem Kachelofen im Herbst, weißen Mottenkugeln, Zündplättchenpistolen, frisch lackierten Pulten am ersten Schultag, frisch geräucherter Wurst beim Metzger oder schimmeliger Comichefte auf dem Plumpsklo bei der Hütte. In der Küche roch es nach Frikassee, Kohlrouladen und anderen mehr oder weniger vergessenen Gerichten. Wer in den 1960er-Jahren geboren ist, erinnert sich an Ananas aus der Dose, Pommes, Fischstäbchen, lederne Federmäppchen, Matrizenabzüge, Fingerfarben und den staubigen Geruch frisch gespitzter Bleistifte. Kinder der 1970er-Jahre teilen Erinnerungen an massenweise süße Aromen in Plastiktütchen, Leim, Haarspray und Sonnenöl. Alle drei Generationen verbinden den scharfen und gleichzeitig süßen Geruch von Tankstellen mit warmen Sommertagen und Ausflügen – ein Erlebnis, von dem Kinder der 2020er-Jahre nur träumen können. Diese Gerüche sind verschwunden, und neue sind an ihre Stelle getreten, zum Beispiel der chemische Dunst von Desinfektionsmitteln in Geschäften, der süßliche Dampf von E-Zigaretten oder der metallische Geruch von Elektroautos. Aufgrund des raschen technologischen Fortschritts, wechselnder Essgewohnheiten und neuer Materialien überleben solche Gerüche selten mehr als eine Generation. Wir schaffen es kaum noch, uns an einen Geruch zu gewöhnen, eher er wieder verschwunden ist. Und viele davon kommen nie mehr wieder.

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© Anette Rosenberg

 

Beenden möchte ich diesen Beitrag mit folgendem Statement von Bjørn Berge

«Mein Buch ist eine Hommage an den freien, ungezähmten Geruchssinn – in all seiner Schönheit und Abscheulichkeit. Es beginnt mit den Grundlagen der Funktionsweise des Geruchssinns und führt dann durch seine Geschichte: von den alten Zivilisationen über die Pestepidemien des Mittelalters und die industrielle Revolution bis hin zu unserer sterilen Gegenwart. Es ist sowohl eine Klage über das, was wir verlieren, als auch ein Aufruf, wieder tief durchzuatmen, um die Düfte zurückzugewinnen, die uns zu Menschen machen.»

Bjørn Berge ist ein norwegischer Sachbuch-Autor und Architekt. Er veröffentlichte bereits zahlreiche Artikel und Bücher über Geschichte, Architektur und Bauökologie.

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