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Experimente: Die Chemie der Atmung

Was ist Licht? Wie entsteht Wärme? Was hat es mit der Schwerkraft auf sich? Über solche Fragen haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen über die Jahrhunderte nachgedacht und nicht nur nach Antworten gesucht, sondern auch nach Möglichkeiten, diese zu beweisen. In «Experimente» führt Philip Ball anhand 60 wegweisender Experimente durch die faszinierende Geschichte der experimentellen Naturwissenschaft – Vom Foucaultschen Pendel bis zum DNA-Origami.

Im folgenden Beitrag gehen wir zusammen mit Philip Ball der Frage nach, welche chemischen Prozesse bei der Atmung ablaufen. Das zeigt er anhand von Antoine Lavoisiers 15 Jahre andauernden Versuchsreihe zur Atmung, mit der er den Grundstein für die Stoffwechselbiochemie legte.

Die Chemie der Atmung

Im frühen 16. Jahrhundert argumentierte der Schweizer Arzt und Alchemist Paracelsus, dass das Leben im Wesentlichen ein (al)chemischer Prozess sei. Die Vorgänge, die etwa bei der Verdauung ablaufen, seien dieselben wie die, die ein Alchemist in Kolben und Retorten im Labor durchführen könne, allerdings gesteuert von einer Art «innerem Alchemisten», den Paracelsus den Archeus nannte.

Trotz der blumigen Formulierung trug die Vorstellung an der Wurzel dieser Spekulationen Früchte und führte zur Entstehung der chemiebasierten Medizin, genannt Iatrochemie, vor allem in Frankreich. Zwar ist Paracelsus’ Vision noch weit entfernt von der des großen französischen Chemikers Antoine Lavoisier im späten 18. Jahrhundert, doch waren beide der Ansicht, dass das, was wir heute biologische Prozesse nennen würden, sich als chemische Reaktionen betrachten lässt und dass es Entsprechungen zwischen rein chemischen Umwandlungen und denen gibt, die das Leben steuern.

Lavierte Federzeichnung, Madame Lavoisier zugeschrieben. Bei einem von Antoine Lavoisiers Experimenten zur Atmung wird ein Mann auf einer Waage gewogen, ein weiterer hat den Kopf unter einer Glashaube. Um 1790, Wellcome Collection, London.

Das späte 18. Jahrhundert war die Ära der «pneumatischen Chemie», in der man sich vor allem mit den «Lüften» beschäftigte – ein Sammelbegriff für verschiedene Gase. In diesem Kontext machte Lavoisier sich daran, das Phänomen der Atmung zu entschlüsseln. Als er Mitte der 1770er-Jahre mit seinen Studien begann, war Lavoisier stark durch die Arbeiten des englischen Chemikers Joseph Priestley beeinflusst, der die These aufstellte, dass der Körper durch das «Feuerprinzip» genährt wurde, das Phlogiston. Dieser schwer zu fassende Stoff galt als Element, das in Mengen in flammbaren Substanzen vorkam und beim Verbrennen freigesetzt wurde. Die Verbrennung hört auf, wenn die Umgebungsluft mit Phlogiston gesättigt ist und kein weiteres mehr aufnehmen kann.

Weil die Phlogiston-Theorie der Verbrennung mehr oder weniger ein Spiegelbild des tatsächlichen Sachverhalts ist, dass brennende Substanzen Sauerstoff aus der Luft aufnehmen, kann es verwirrend sein, Lavoisiers frühe Experimente zur Verbrennung in dieser Sprache zu diskutieren. Priestley hatte gezeigt, dass es möglich ist, «dephlogistierte Luft» – also das, was wir heute Sauerstoff nennen – herzustellen, und dass sie für eine besonders lebhafte Verbrennung sorgt. Priestley bestätigte, dass das Inhalieren dieses Stoffes ihn auf besondere Weise belebte.

Lavoisiers erste Experimentreihe zur Atmung begann 1776, als er sorgfältig bestimmte, wie gewöhnliche Luft sich verändert, wenn Tiere sie atmen. Er experimentierte mit Vögeln in versiegelten Glasglocken, um herauszufinden, wie ihre Atmung die eingeschlossene Luft veränderte. In einem Manuskript aus dem Oktober/November 1776 berichtete er, dass ein Spatz nach knapp einer Stunde «unter krampfhaften Bewegungen» starb, dass die Luft in der Glocke aber kaum an Volumen verloren hatte. Jedoch hatte sich ihre Zusammensetzung verändert: Ein zweiter Vogel, den er derselben Umgebungsluft aussetzte, starb beinahe sofort. Und die geatmete Luft trübte Kalkwasser beim Durchleiten: der klassische Test auf das, was wir heute Kohlendioxid nennen, damals auf Anregung des schottischen Chemikers Joseph Black «fixe Luft» genannt.

Lavoisier und sein Team bestimmten sorgfältig die Anteile der fixen und der verbleibenden «mephitischen» (nicht lebenserhaltenden) Luft. Er folgerte: «Die Atmung wirkt sich nur auf einen Teil der Luft aus, der sich atmen lässt, und […] dieser Teil übersteigt nicht ein Viertel der Luft der Atmosphäre.» Er verglich diese Ergebnisse mit dem, was während der gewöhnlichen Verbrennung geschah, sowie mit den Reaktionen von Metallen wie Quecksilber beim Erhitzen in Luft. Diese bildeten dabei die damals so bezeichneten Metallkalke; heute würden wir sagen, sie wurden durch die Reaktion mit Sauerstoff in ihre Oxide umgewandelt. Lavoisier stellte fest, dass der Anteil der «atembaren Luft», die in der Lunge durch die Atmung entzogen wird, dem Anteil entspricht, der bei der Bildung eines Metallkalks wie Quecksilberoxid entzogen wird. Er begriff auch, dass der Vorgang, durch den das aus der Lunge kommende Blut hellrot wird, mit der Kombination des Blutes mit diesem atembaren Teil der Luft zu tun hat.

Lavierte Federzeichnung, Madame Lavoisier zugeschrieben. Einem Mann in einem Fass, den Kopf unter einem Glasverdeck, wird der Puls gemessen, während Antoine Lavoisier seiner den Bericht schreibenden Frau diktiert. Um 1790, Wellcome Collection, London.

Das ließ mehrere Fragen offen. Woher kommt die fixe Luft? Wird die atembare Luft (also der Sauerstoff) zu fixer Luft umgewandelt, oder wird sie nur durch fixe Luft ersetzt, die auf irgendeine Weise schon in der Lunge vorhanden ist? Fixe Luft entstand auch bei der Verbrennung von Kohle – ist also die Atmung nur eine Art von Verbrennung? 1777 versuchte Lavoisier, die Chemie der Atmung mit dem anderen wesentlichen Aspekt der Verbrennung zusammenzubringen: der Wärmeerzeugung. Vielleicht war die Atmung verantwortlich für die Wärme von Tierkörpern? In den frühen 1780er-Jahren führte er zusammen mit dem französischen Wissenschaftler Pierre-Simon Laplace Experimente durch, mit denen sie die Beziehung zwischen der Wärme, die Tiere erzeugen, und der fixen Luft, die sie ausatmen, bestimmen wollten. Für die meisten dieser Untersuchungen verwendeten sie Meerschweinchen, doch es folgte auch bald die Erprobung am Menschen.

Lavoisier begann erst in den 1790er-Jahren, die menschliche Atmung zu studieren, als er schon sehr mit seinen administrativen Pflichten für die französische Regierung beschäftigt war, für die er (unter anderem) Steuern eintrieb. Einige seiner Experimente
müssen von seinen Assistenten durchgeführt worden sein, insbesondere von einem jungen Schützling namens Armand Seguin. Lavoisier wurde außerdem von seiner Frau Marie-Anne Pierette Paulze Lavoisier im Labor unterstützt, die sehr bewandert in den Debatten in der pneumatischen Chemie war. Da Antoine kaum Englisch sprechen und lesen konnte, übersetzte Marie-Anne für ihn die Arbeiten von Priestley, Black und anderen. Zusätzlich führte sie das Laborbuch, in dem sie auch Skizzen der Experimente festhielt, in denen ihre Zeichenstunden bei dem Künstler Jacques-Louis David deutlich wurden. Nach heutigen Standards würde man Mme Lavoisier als Co-Autorin der Arbeit betrachten, so wie Seguin als Co-Autor gilt. Lavoisier plante, die Atmungsvorgänge beim Menschen mit derselben Präzision zu bestimmen, die er bei den Tieren angewandt hatte. Natürlich konnte er keinen Menschen unter eine Glasglocke setzen, bis er starb; stattdessen fertigte er Masken an, die das Gesicht bedeckten, sodass alle ein- und ausgeatmeten Gase quantifiziert werden konnten. Das Versuchsobjekt bei einer solchen Studie zu sein, war keine angenehme Erfahrung. «So schmerzhaft, unangenehm und sogar gefährlich diese Experimente, denen man sich unterziehen musste, auch sind», schrieb Lavoisier, «wünschte M. Seguin dennoch, dass sie an ihm selbst durchgeführt werden.» Inzwischen hatte Lavoisier das Phlogiston zugunsten seiner eigenen oxygène-Theorie der Verbrennung aufgegeben. Er betrachtete gewöhnliche Luft nun als eine Mischung von Sauerstoff und azote (vom griechischen Begriff für «ohne Leben»), also Stickstoff. Ende 1790 schrieb Lavoisier an Black, dass er das Volumen von Sauerstoffgas gemessen habe, das «ein Mann in Ruhe und in Abstinenz [von Nahrung] verbraucht», und wie es sich bei körperlicher Betätigung und mit der Raumtemperatur verändert. Er kam zu dem Schluss, dass «Azot», wie es damals auch genannt wurde, «beim Vorgang der Atmung keinen Zweck erfüllt und die Lunge in derselben Menge und demselben Zustand verlässt, wie es hineingekommen ist.»

Bei der Atmung, folgerte Lavoisier, entzieht der Sauerstoff dem Blut, das in der Lunge zirkuliert, «einen Teil Kohlenstoff», was fixe Luft erzeugt. Gleichzeitig verbindet sich Wasserstoff im Blut mit Sauerstoff zu Wasser, das als Feuchtigkeit abgegeben wird. Im Gegenzug hinterlässt die Luft im Blut «einen Teil kalorische Substanz» – also Wärme, die Lavoisier als eine Art fluide Substanz betrachtete –, die «im Blut mit dem Kreislauf in alle Teile des tierischen Systems verteilt wird». Ob der Sauerstoff in fixe Luft umgewandelt wird (wie bei der Verbrennung von Kohle) oder nur durch sie ersetzt wird, ließ sich durch die Experimente nicht unterscheiden. Lavoisier kannte die Grenzen dessen, was er mit Sicherheit ableiten konnte.

Lavoisier behauptete sogar, feststellen zu können, wie viel Sauerstoff benötigt und wie viel Wärme erzeugt wird «bei der Arbeit eines nachdenkenden Philosophen [und] eines schreibenden Gelehrten». Er stand kurz davor, das Feld der Bioenergetik zu erschaffen:
die Umwandlung chemischer in mechanische Energie im Körper über Stoffwechselreaktionen. Auch wenn es hier nicht um ein einzelnes Experiment geht – die Fragestellung war viel zu kompliziert, um sich auf diese Weise beantworten zu lassen –, legte Lavoisiers rund fünfzehn Jahre dauernde Versuchsreihe, mit der er die Atmung erforschte, den Grundstein für die Stoffwechselbiochemie und war ein Meisterwerk sorgfältiger Beobachtung und Quantifizierung, gekoppelt mit einer Theoriebildung, die gleichzeitig kühn und bedacht war. Offenbar, so wurde Lavoisier klar, hängt der verbrauchte Sauerstoff und die im Ergebnis verbrannte Nahrung von der Anstrengung der körperlichen Plackerei ab. «Der arme Mann, der von der Arbeit seiner Hände lebt», braucht daher mehr Nahrung als der müßige, wohlhabende Mann. Dieser Hinweis auf die wirtschaftlichen Ungleichheiten im 18. Jahrhundert lässt im Rückblick an einen düsteren Vorboten der Revolution denken, die Frankreich bald verschlingen und seinen großen Gelehrten Antoine Lavoisier auslöschen sollte.

Text: adaptiert und gekürzt aus «Experimente»


Philipp Ball ist ein britischer Chemiker, Physiker und Wissenschaftsjournalist. Er wurde mehrfach für seine naturwissenschaftlichen Sachbücher ausgezeichnet und war während vieler Jahre Redakteur der wissenschaftlichen Zeitschrift „Nature“.

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