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Biodiversität zwischen Wasser und Land: Blau-grüne Infrastruktur in urbanen Siedlungsgebieten

Aquatische und terrestrische Lebensräume sind eng miteinander verknüpft. Zahlreiche Pflanzen- und Tierarten nutzen während ihres Lebens beide Lebensräume: zwischen «Wasser» und «Land» herrscht ein reger Austausch von Stoffen und Organismen. Auch die menschliche Nutzung und Gestaltung der Landschaft wird vom Wechselspiel zwischen aquatischen und terrestrischen Lebensräumen geprägt.
In «Biodiversität zwischen Wasser und Land» laden Florian Altermatt, Sabine Güsewell und Rolf Holderegger dazu ein, auf acht Exkursionen die Funktionsweise dieser Lebensräume und ihre Biodiversität aktiv zu erkunden.

Die Exkursion, die wir Ihnen hier im Folgenden in Teilen vorstellen, führt durch ein Siedlungs- und Gewerbegebiet am Nordrand der Stadt Zürich. Das Gebiet wurde in den letzten Jahren mit dem Ausbau von Wohnsiedlungen, Gewerbegebieten, Verkehrs- und Freizeitanlagen baulich stark verdichtet. Zur Verminderung negativer Auswirkungen auf die Lebensqualität, das lokale Klima, den Wasserhaushalt und die Biodiversität wurde im Zuge der Urbanisierung auch die blau-grüne Infrastruktur ausgebaut. Dazu wurden bestehende Lebensräume ökologisch aufgewertet und vernetzt. Zudem wurden neue, künstliche blau-grüne Strukturen geschaffen.

Auf dieser Exkursion besuchen Sie verschiedene Elemente der blau-grünen Infrastruktur in einem urbanen Gebiet. Sie erfahren, mit welchen Zielen und nach welchen Prinzipien sie erstellt wurden und beurteilen ihre Funktionserfüllung. Sie stellen auch fest, wie die zunehmende Urbanisierung die Landschaft im letzten Jahrhundert verändert hat, und realisieren ihren zwiespältigen Einfluss auf die regionale Biodiversität. Im Folgenden stellen wir Ihnen ein paar Aspekte vor. Die ganze Exkursion und weitere Erläuterungen finden Sie im Buch.

MERKMALE DER BLAU-GRÜNEN INFRASTRUKTUR IN URBANEN SIEDLUNGSGEBIETEN

Urbane Siedlungsgebiete kennzeichnen sich durch eine hohe Bevölkerungsdichte und einen hohen Anteil überbauter oder versiegelter Bodenfläche. Es sind naturferne, «graue» Landschaften mit einem geringen Grünflächenanteil; allfällige Gewässer sind eingedolt, eingeengt oder stark verbaut. Diese Merkmale treffen mehrheitlich auch für die historischen Zentren der großen Schweizer Städte zu. […]
Städtische Grünflächen wurden lange hauptsächlich nach ästhetischen und funktionellen Kriterien gestaltet. Kurzgeschnittene Rasen, geometrisch geformte Sträucher oder Blumenrabatten sollten ansprechend und gepflegt wirken. Mit der Entwicklung der Stadtökologie wuchs jedoch ab 1980 das Bewusstsein um die Bedeutung städtischer Grünflächen für die Biodiversität. Untersuchungen zeigten, dass manche Tiere und Pflanzen, deren bisherige Lebensräume durch die landwirtschaftliche Intensivierung verloren gingen, in Städten Ersatzlebensräume finden. Es folgte ein Trend zur naturnahen Gestaltung mit Blumenwiesen und Staudenfluren, einheimischen Gehölzen, Weihern, Bächen oder Natursteinen. Die Förderung der Biodiversität und das Naturerlebnis wurden wichtiger.
Das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum der letzten 20 Jahre führte zu einer Verdichtung der Außenquartiere. Die verbliebenen Grünflächen wurden zunehmend überbaut. […] Gemäß der Schweizer Arealstatistik waren 2013–2018 in den Siedlungsgebieten des Kantons Zürich 63 % der Fläche überbaut oder versiegelt. In anderen Kantonen liegt der versiegelte Anteil der Siedlungsgebiete bei 57–72 %.

Der revitalisierte und dicht bestockte untere Sagentobelbach, dahinter
(oben rechts im Bild) ein Kunstrasen der Sportanlage Heerenschürli.

Der aktuelle Klimawandel mit häufigeren Hitze-, Dürre-, Starkregen- und Hochwasserereignissen wirkt sich in verdichteten und versiegelten Siedlungsgebieten
besonders negativ aus. Die damit verbundenen Risiken führten zu einem erneuten Umdenken und zur Entwicklung blau-grüner Infrastrukturen als Lösungsansatz.
[…]
Ob sich blau-grüne Infrastrukturen tatsächlich positiv auf die Biodiversität in städtischen Siedlungsgebieten auswirken, hängt von ihrer Größe, ihrer Gestaltung und ihrer Vernetzung mit naturnahen Lebensräumen ab.
Als blau-grüne Infrastruktur wird ein gezielt angelegtes, multifunktionelles Netzwerk aus natürlichen und künstlichen Elementen bezeichnet, die einem nachhaltigen Umgang mit Niederschlägen und Fließgewässern in Siedlungsgebieten dienen. Das kann Folgendes beinhalten:

  • Revitalisierung kanalisierter Fließgewässer
  • Freilegung eingedolter Bäche
  • Wasserbecken und Wasserspiele
  • Versickerungsmulden
  • Hochwasserretentionsbecken
  • Retentionsfilterbecken für Straßenabwasser
  • Baumrigolen
  • Begrünte Dachflächen

Neue blau-grüne Infrastrukturen beeinflussen die Biodiversität in Siedlungsgebieten in mehrfacher Hinsicht positiv. Erstens werden unversiegelte, oft auch bewachsene Lebensräume geschaffen oder erhalten. Diese sind feucht bis nass und ergänzen deshalb die mehrheitlich trockenen städtischen Lebensräume, auch als Wasserquelle für terrestrische Tierarten. Auch wenn die einzelnen blau-grünen Strukturen oft klein sind, kann ein Netzwerk solcher Elemente doch insgesamt überlebensfähige Populationen von Arten in Städten beherbergen. Sie können auch zur Vernetzung
bestehender, größerer naturnaher Lebensräume beitragen und somit die Durchlässigkeit der Landschaft fördern. Der Nutzen einer städtischen blau-grünen Infrastruktur für die Biodiversität ist daher am größten, wenn diese in ein Netzwerk von wertvollen Lebensräumen auf Landschaftsebene eingebettet ist.

EXKURSIONSROUTE UND PRAKTISCHE INFORMATIONEN

©Swisstopo, verändert

Distanz/Höhenmeter:
9 km, flach. Die Exkursion wird als Velofahrt empfohlen.

Stationen:
1 Revitalisierter Sagentobelbach
2 Blau-grüne Straßenunterquerung
3 Versickerungsmulden
4 Bestockter Sagentobelbach
5 ARA Neuguet – Elimination von Stickstoff und
Mikroverunreinigungen
6 Revitalisierung der Glatt
7 Naturschutzgebiet Hinterem Grindel
8 Opfiker Park und Glattpark-See
9 Blau-grüne Infrastruktur in der Glattpark-Siedlung
10 Revitalisierter Katzenbach

Anreise:
Per Zug zum Bahnhof Stettbach (A).

Rückreise:
S-Bahn ab Bahnhof Seebach, Opfikon oder Glattbrugg (B); Schnellzug ab Zürich Oerlikon, Zürich Flughafen oder Zürich HB.

Anforderungen:
Überwiegend flache Straßen und Kieswege, die mit dem Velo befahrbar sind.

Empfohlene Jahreszeit:
Ganzjährig; ideal im Frühling.

STATIONEN UND BEOBACHTUNGEN

Das Autor:innenteam präsentiert zu jeder Station eine Wegbeschreibung, Hintergrundwissen und Beobachtungsaufgaben. Eine Station stellen wir Ihnen hier exemplarisch vor:

Station 2 – Blau-grüne Straßenunterquerung

Der Sagentobelbach ist im regionalen Richtplan als Korridor zur Vernetzung der Glatt mit dem Adlisberg ausgewiesen. Die neue Unterquerung der Kantonsstraße wurde deshalb so gestaltet, dass sie als Passage für aquatische und terrestrische Kleintiere dienen kann (siehe Abbildung). Für einen funktionierenden blau-grünen Durchlass sollten folgende Kriterien erfüllt sein: (1) Der Durchlass schließt an den natürlichen Verlauf des Gewässers an. (2) Er ist möglichst kurz, breit, hoch und hell; der Ausgang ist sichtbar. (3) Die Gewässersohle ist im Durchlass naturnah gestaltet und
ohne Schwellen. (4) Die Wassertiefe genügt für aquatische Zielarten (z. B. Fische). (5) Die Uferzone innerhalb des Durchlasses schließt nahtlos an die Uferbereiche beidseits der unterquerten Straße an. Sie weist mindestens auf einer Seite einen natürlichen Bodenbelag auf. (6) Tiere werden mit Leitwerken (Geländeform, Bepflanzung, Zäune) zum Durchlass geführt. (7) Im Durchlass wird kein Material oder Abfall deponiert.

Beobachtungen bei Station 2:

Für die Diversität einer Lebensgemeinschaft ist nicht nur die Artenzahl relevant, sondern auch ihre Verteilung. Bei gegebener Artenzahl ist die Diversität am größten, wenn alle Arten gleich häufig und gleichmäßig im Raum verteilt sind, da dann die Eigenschaften aller Arten zu den Funktionen der Lebensgemeinschaft beitragen. Wenn hingegen eine Art sehr häufig ist und alle anderen nur vereinzelt vorkommen, wird die Funktion und Dynamik der Lebensgemeinschaft durch die Eigenschaften der dominierenden Art bestimmt. Natürliche Lebensgemeinschaften liegen meist zwischen diesen zwei Extremen; die Arthäufigkeiten sind also von der häufigsten zur seltensten Art abgestuft. Zudem sind die Arten von Natur aus meist unregelmäßig im Raum verteilt, sodass oft mehrere Individuen der gleichen Art in kleinen Gruppen vorkommen.
Die Bäume und Sträucher am Ufer des Sagentobelbachs wurden gepflanzt. Wurde dabei ein naturnahes Verteilungsmuster gewählt? Gehen Sie die Fließstrecke von der Brücke bis zur Straßenunterquerung ab und bestimmen Sie soweit möglich alle Bäume und Sträucher (über 50 cm Höhe), entweder an beiden Ufern (falls Sie die Bäume und Sträucher aus der Entfernung erkennen können) oder nur am linken Ufer. Machen Sie in der nachfolgenden Tabelle für jedes Vorkommen einer Art einen Strich. Achten Sie auch auf die räumliche Verteilung. Zu welchem Schluss kommen Sie?

Fotos, sofern nicht anders in der Bildbeschreibung angegeben: Florian Altermatt
Text: gekürzt und adaptiert aus «Biodiversität zwischen Wasser und Land»


Florian Altermatt ist ordentlicher Professor für Aquatische Ökologie an der Universität Zürich und der Wasserforschungsanstalt Eawag. Er lehrt und forscht zur Biodiversität in der Schweiz, mit einem besonderen Fokus auf Integration von Grundlagenforschung und Praxis.
Sabine Güsewell ist Umweltnaturwissenschaftlerin und Biostatistikerin. Sie hat an der ETH Zürich im Gebiet der Pflanzenökologie gelehrt, Exkursionen und Feldkurse geleitet, geforscht und Naturschutzprojekte begleitet.
Rolf Holderegger ist Biologe und forscht zur terrestrischen Biodiversität und Naturschutzbiologie an der WSL Eidgenössische Forschungsanstalt in Birmensdorf bei Zürich. Ein besonderes Anliegen ist ihm die Umsetzung von Forschungsresultaten in die Praxis. Er lehrt an der ETH in Zürich.

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